Lehrpläne und Lerninhalte in Thailands Schulen schließen ethnische Minderheiten häufig vom Unterricht aus. Dass es auch anders geht, zeigt ein aus der Schweiz unterstütztes Projekt.
Anong hat sich seit Monaten auf ihren ersten Schultag gefreut. Doch die Einschulung wird zum Desaster. Das Mädchen versteht die Sprache der Lehrerin nicht. Zur großen Enttäuschung kommen in den nächsten Monaten Frustration, Langeweile und schlussendlich das Desinteresse am Unterricht dazu. Anong verlässt nach wenigen Jahren die Schule. Jobperspektiven hat sie keine. Mit 16 Jahren erwartet sie ihr erstes Kind.
Anong steht symbolisch für die Kinder und Jugendlichen, die in abgelegenen Bergdörfern Thailands aufwachsen. Dass sie die Sprache der Lehrpersonen im Unterricht nicht verstehen, liegt nicht an mangelnder Intelligenz, sondern an ihrer Herkunft. In den Bergdörfern wird nicht die offizielle Landessprache Thai gesprochen, man kommuniziert in den jeweiligen Sprachen der einzelnen Volksstämme, unter anderen in Pwo Karen, Mon oder Hmong. Thai ist für diese ethnischen Minderheiten – sie leben vor allem in den Grenzregionen zu Laos und Myanmar – eine Fremdsprache. Den ersten Kontakt damit haben sie in der Schule, wo die Lehrerinnen und Lehrer der lokalen Sprachen nicht mächtig sind. Sie werden nach ihrem Studium vom zentral gesteuerten Bildungsministerium im Land verteilt, um einen Unterricht mit den vom Staat zur Verfügung gestellten Büchern in der offiziellen Landes- und Schulsprache abzuhalten.
Unverständlicher Unterricht: Für Kinder und Jugendliche hat dieses „gegenseitige sprachliche Unverständnis“ fatale Folgen. Im Vergleich mit dem nationalen Durchschnitt weisen die Kinder in den Bergdörfern schlechtere Schulleistungen auf, sie verlassen die Schule früher, absolvieren nur selten eine weiterführende Schule oder ein Studium. Ohne Schulbildung ist es jedoch schwer, eine Arbeit zu finden. Die Jugendlichen bleiben in der gleichen Armutsspirale wie ihre Eltern stecken – stigmatisiert durch Herkunft und Sprache.
„Wenn die Muttersprache nicht gefördert wird, beeinflusst dies nicht nur die schulischen Leistungen und später die Berufswahl, sondern auch das Selbstvertrauen und die Selbstwahrnehmung. Ein Teil der eigenen Identität, der eigenen Geschichte und der eigenen Stärken verkümmert. Wissen, Geschichten, kulturelle Vielfalt gehen verloren“, erklärt Brigit Burkard, Programmverantwortliche Südostasien der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi. Seit 2007 investiert die Appenzeller Stiftung – finanziert durch die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und private Spenden – in ein Projekt zur Förderung des zweisprachigen Unterrichts für ethnische Minderheiten.
Die Strategie ist einleuchtend: Der Unterricht soll in der Muttersprache der Schülerinnen und Schüler stattfinden. Denn wer in der Muttersprache unterrichtet wird, lernt eine neue Sprache leichter. Als Zweitsprache wird Thai unterrichtet. Im Klassenzimmer steht eine Lehrperson, welche beide Sprachen spricht oder ein Team – bestehend aus einer Thai-Lehrkraft und einer Assistentin oder einem Assistenten, welche den Unterrichtsinhalt in die lokale Sprache übersetzt. Finanziert werden im Rahmen des Projektes die Ausbildung von LehrerInnen sowie AssistentInnen, die Entwicklung von Lehrmitteln und Lehrplänen wie auch Weiterbildungen für die Bevölkerung. Sechs Schulen mit insgesamt 2.000 Kindern, die ethnischen Minderheiten angehören, profitieren vom zweisprachigen Unterricht. Dazu kommen an die 100 Lehrpersonen, die eine Ausbildung im zweisprachigen Unterricht erhalten. Die Kosten pro Jahr liegen bei umgerechnet rund 143.000 Euro. Das Projekt läuft über neun Jahre bis Ende 2015.
„Ich kenne kein vergleichbares Projekt in Thailand, beziehungsweise der gesamten Region, welches sich so professionell mit der Einführung der Muttersprache auseinandersetzt“, betont Burkard und fügt hinzu: „Das heißt, professionell linguistisch. Auf der einen Seite durch die Zusammenarbeit mit der Dorfbevölkerung, um den kulturellen Hintergrund miteinzubeziehen; auf der anderen Seite durch den Dialog mit dem Bildungsministerium zur Verankerung im System. Denn unsere Arbeit beschränkt sich nicht nur auf die Schulen.“ Eine entscheidende Rolle spielen die Partnerorganisationen vor Ort. An vorderster Front steht dabei Panne Bharistha Sreshthaputra, Projektkoordinatorin der Foundation for Applied Linguistics (FAL). Die 40-Jährige besucht die Schulen in den Bergdörfern. Zum Beispiel in Baan Pui, rund vier Autostunden nördlich der Großstadt Chiang Mai. Zwischen Reisfeldern und Bambuswäldern leben hier in einfachen Holzhütten etwa 300 Familien. Die erste Schule wurde vor 15 Jahren gebaut, Elektrizität und damit in fast jedem Haus einen Fernseher gibt es erst seit kurzem. Gesprochen wird Pwo Karen. Die Sprache verfügt über eigene Schriftzeichen und hat kaum Ähnlichkeiten zur offiziellen Landessprache Thai.
Stolz auf die Sprache Pwo Karen ist kaum jemand. „Wer Erfolg, einen guten Job und Geld haben will, spricht Thai. Schauen sie nur mal fern“, sagt eine der Dorfältesten. Um die Menschen in Baan Pui für das Schulprojekt zu sensibilisieren, fanden in der Dorfkirche Workshops statt. „Ohne die Unterstützung der gesamten Bevölkerung ist ein solches Schulprojekt nicht realisierbar“, betont die lokale Projektkoordinatorin. „Der Pwo-Karen-Sprachschatz liegt in den Köpfen und Herzen der Menschen hier im Dorf.“
Mehr Muttersprache
Bildung gilt als Schlüssel in der Armutsbekämpfung. Obwohl die positiven Effekte von Unterricht in der Muttersprache durch viele Studien belegt sind, ist dies für sprachliche Minderheiten rund um den Globus generell eher Ausnahme statt Regel.
Die Österreichische Entwicklungszusammenarbeit (OEZA )setzt sich gemeinsam mit Dänemark und der Schweiz etwa in Burkina Faso für muttersprachliche Bildung ein. Mit dem Programm EFORD wird noch bis Ende dieses Jahres ein Berufsbildungs-Programm gefördert, bei dem Jugendliche in ihrer Muttersprache (statt in der Amtssprache Französisch) unterrichtet werden. Auch in Südosteuropa gibt es ein von der OEZA gefördertes Projekt, nämlich in Moldawien. Dort geht es um die Vermittlung der rumänischen Sprache vor allem an Sozialarbeiterinnen und -arbeiter. red
Mehr Informationen: www.entwicklung.at
Außer der Bibel gab es kein einziges Buch in Pwo Karen. Seit dem Projektstart vor sieben Jahren hat sich dies geändert: Das erste Wörterbuch ist für dieses Jahr geplant. Die Serie an Schulbüchern in Pwo Karen wurde über die vergangenen Jahre stetig erweitert. Die Bücher – bis heute sind es 18 an der Zahl – wurden mit der Dorfbevölkerung zusammen entwickelt. Sie thematisieren das Leben im Dorf und die Traditionen der Gemeinschaft. Wissen, das sonst verloren gehen würde. In ein paar Jahrzehnten würde sich vielleicht niemand mehr erinnern, wie man aus Bambus die traditionellen Instrumente anfertigt. Wie man aus dem Bergfrosch eine feine Suppe kocht und Bambuswürmer frittiert. Oder wie man auf traditionelle Art und Weise die Hausdächer deckt und die Reisfelder bewässert. Und wer würde wissen, dass „Ang-Tu“, das Wort in Pwo Karen für Hochzeit, wörtlich übersetzt „Iss-das-Schwein“ bedeutet?
Bei den Lehrerinnen und Lehrern, den Eltern und dem Bildungsministerium stößt das Projekt auf Wohlwollen. Die Leistungen der Schülerinnen und Schüler haben sich im nationalen Vergleich verbessert; kaum ein Kind verlässt die Schule vor der obligatorischen Schulzeit und immer mehr Jugendliche schaffen den Sprung an weiterführende Schulen oder gar Universitäten. Die Kinder sind jetzt stolz auf ihre Sprache und Herkunft. Projektkoordinatorin Sreshthaputra hofft, dass einige der Schülerinnen und Schüler sich für den Lehrerberuf entscheiden und dann zurück in ihre Dörfer kommen, um zu unterrichten. Eine erste Runde im Kampf gegen die Armutsspirale scheint das Schulprojekt gewonnen zu haben. Rosig sieht die Zukunft trotzdem nicht aus.
Ende dieses Jahres ist das Projekt offiziell zu Ende und die Finanzierung aus der Schweiz Vergangenheit, außer die Schweizer Stiftung entscheidet sich doch noch für eine Verlängerung. Obwohl es als Vorzeigeprojekt für die gesamte Region gilt, sind alternative Geldgeber – seien es thailändische Sponsoren oder internationale Stiftungen, welche die Finanzierung übernehmen – nämlich nicht in Sicht.
Schuldirektorin Piyapat Mee-nam, die die Schule mit rund 230 Kindern in Baan Pui seit sechs Jahren leitet, sorgt sich um die Zukunft. „Dem Bildungsministerium ist zwar klar, wie wirksam der bilinguale Unterricht ist. Im Rahmen des Projektes besuchten dessen Mitarbeiter unsere Schule, doch in Zukunft wird dafür das Geld fehlen. Es gibt zwar ein Gesetz, das den Unterricht in der Sprache der ethnischen Minderheiten erlaubt, aber kein Budget für dessen Umsetzung, keine entsprechende Ausbildung für die Lehrkräfte.“
Christa Wüthrich ist freie Journalistin und lebt in Singapur. Im vergangenen November besuchte sie das Projekt der Pestalozzi-Stiftung im Norden Thailands.
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